Vortrag von Imam Mohamed Ibrahim, Wolfsburg
Am 4. November 2009 war unserer früherer Muslimischer Vorsitzender Imam Mohamed Ibrahim bei uns zu Gast und hielt vor zahlreichen Besucherinnen und Besuchern den Vortrag: Historische Distanz - Hat uns die Religion heute noch etwas zu sagen
Meine Damen und Herren, Brüder und Schwestern,
je mehr wir wissen, desto mehr wissen wir, dass wir wenig wissen. Die erste Frage, die sich zu dem Thema stellt: Was meinen wir mit „Historische Distanz“?
Dieser Begriff ist auch ein eigenständiger Begriff; damit meint man, dass man rückblickend, nach dem Ende einer Epoche, dieselbe beurteilt, seine Meinung dazu sagt. In Bezug auf die Religion meinen wir mit „Historische Distanz“ den großen Abstand zu ihrer Entstehungszeit – ob vor 5000 Jahren, 2000 Jahren oder 1500 Jahren. Sind die Religionen noch aktuell? Sind sie noch zeitgemäß? Haben sie uns heute noch etwas zu sagen? Wir werden das hoffentlich im Laufe des Vortrages und der Diskussion erfahren, ob die Religion, nach dieser langen Zeit, egal, welche Religion das jetzt ist, uns noch etwas zu sagen hat.
Die zweite Frage, die sich stellt: Was meinen wir mit „Religion“?
Es gibt von diesem Wort, obwohl wir es alle benutzen, wissenschaftlich keine einheitliche Definition. Hier haben wir es ja auch nicht mit der Mathematik zu tun! Jeder hat so eine eigene Vorstellung, eine eigene Definition von Religion. Mit dem Wort „Religion“ verbindet man verschiedene Begriffe wie z.B. Glaube, Weltanschauung, Lebensphilosophie, Lebensweise oder Glaubensgemeinschaft. Das sind alles Dinge, Begriffe, die man mit der Religion verbindet. Religion ist ein Glaube, aber nicht nur, sondern ein im Denken, im Fühlen und auch im Handeln betätigter Glaube – woran? An das Dasein von etwas Höherem, in vielen Religionen wird dieses „höhere Wesen“ Gott genannt. Das heißt, die Religion ist ein Glaube, der gelebt wird, eine Beziehung zwischen den Menschen und Gott, diesem höheren Wesen. Das waren jetzt diese zwei Begriffe, die wir in dem Titel dieses Vortrages finden, zum Einen „Historische Distanz“, zum Anderen „Religion“.
Aber die Frage ist, ob die Religion uns heute noch etwas zu sagen hat?
Welche möglichen Antworten gibt es auf diese Frage? 1. Nein! Die Religion hat uns nichts zu sagen, oder 2. Ja! Die Religion hat uns etwas zu sagen. Mit welcher Antwort fangen wir an? Mit „Nein“ natürlich!
1. Also: Die Religion hat uns heute nichts zu sagen!
Und dann ist die Frage berechtigt: Was denn hat uns etwas zu sagen, oder wer denn hat uns etwas zu sagen? Das kann ja eine Sache sein oder auch eine Person sein: Wer oder was hat uns etwas zu sagen? Eine mögliche Antwort: Wir brauchen gar nichts, was uns etwas zu sagen hat! Wir brauchen weder etwas noch jemanden! Aber da haben wir doch die existenziellen Fragen, die jeder Mensch von uns hat, der Eine beschäftigt sich mehr damit, der Andere weniger, je nachdem auch, unter welchen Gegebenheiten der Einzelne lebt: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was hat das alles für einen Sinn? Warum bin ich hier? Und wenn wir sagen, wir brauchen nichts oder niemanden, der uns etwas sagt, dann haben wir entsprechend keine Antworten auf diese Fragen! Eine andere mögliche Antwort auf diese Frage, wer oder was hat uns etwas zu sagen, ist: Der Mensch ist wichtig, und die Menschlichkeit ist wichtig, und wir haben den Humanismus, das ist auch eine Art Religion für das Diesseits. Da sind wichtige Werte, die wir für das Zusammenleben brauchen, die werden genannt, und es wird erwartet von den Menschen, dass sie das leben. Dann aber ist auch die Frage berechtigt: Gibt der Humanismus uns eine Orientierung? Gibt er uns einen Halt in unserem Leben, vor allem in Krisensituationen? Gibt der Humanismus uns Antworten auf diese Fragen: Wer bin ich? Was bin ich? Woher komme ich? Und warum bin ich hier? Nein!
Das heißt, diese erste mögliche Antwort: „Nein! Religion hat uns heute nichts mehr zu sagen“, ist problematisch, weil wir diese existentiellen Fragen eben weiterhin haben werden, und den entsprechenden Halt, den viele Menschen haben möchten, bei dieser negierenden Antwort nicht zu finden ist.
Was bleibt uns? Die zweite Antwort! Und die lautet:
2. Die Religion hat uns heute noch etwas zu sagen!
Und dann ist die Frage berechtigt: Ja, was hat sie uns denn noch zu sagen? Die Antwort lautet: Es kommt darauf an, welche Religion man meint! Und es kommt auch darauf an, welche Antworten man sucht, auf welche Fragen. Aber allgemein kann man sagen, und ich meine, hier von den drei Schriftreligionen Judentum, Christentum und Islam sprechen zu können; da werden uns drei Dinge gesagt: 1. Es gibt einen Gott, 2. es geht nach dem Tod weiter, 3. handelt gut und rechtschaffen in eurem Leben! Es gibt ja Gott, und nicht nur das, es gibt ja Menschen, die sagen, dass es ein höheres Wesen gibt, dem sie den Namen Gott geben, der ihnen aber nichts zu sagen hat. Wir sehen dieses Wesen ja nicht, es hat sich in unser Leben nicht einzumischen. Aber die Religion sagt nicht nur, dass es Gott gibt, sondern die sagt auch, dass dieser Gott uns etwas zu sagen hat. Nicht nur das, sie sagt, dieser Gott hat uns etwas gesagt! Dieser Gott hat sich uns offenbart. Je nachdem, welcher Religion man sich zugehörig fühlt, glaubt man an eine andere Offenbarung: Gott kann man nicht begreifen und nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen, Gott ist übersinnlich, aber er ist erfahrbar. Jeder Mensch kann ihn erfahren, kann Erfahrungen mit ihm machen. Natürlich kommt es dann auch zu einer berechtigten Frage: Wo sind die Beweise, dass es Gott wirklich gibt? Das ist eine herausfordernde Frage, die es immer gab und immer wieder geben wird. Und es gab und gibt viele Menschen, die sich an dieser Frage immer wieder versuchen, und auch Beweise liefern. Und je nachdem, welche Bereitschaft der Einzelne hat, den Beweis zu akzeptieren oder nicht, lässt er sich überzeugen oder eben nicht. Aber wir sagen: Es gibt Gott! Punkt! Und mir gefällt in diesem Zusammenhang ein Satz von Immanuel Kant, in dem er gesagt hat: „Diejenigen, die sagen, dass es einen Gott gibt, sagen mehr als das, was sie wissen. Und diejenigen, die sagen, dass es keinen Gott gibt, desgleichen.“ Aber es geht ja nicht nur um das Wissen, sondern es geht auch um das Fühlen, um die Bedürfnisse, die die Menschen haben, und um das Glauben. Also: es gibt einen Gott, und dieser Gott hat uns etwas zu sagen und tat dies auch. Das sind dann die Dinge, die wir in den Religionen finden als Gebote, Verbote, Empfehlungen, Regeln oder Anweisungen – aber Gott hat sich offenbart. Ob er das in einer Person gemacht hat wie im Christentum, oder in einer Schrift wie im Islam – auf jeden Fall hatte er den Menschen etwas zu sagen und tat dies auch. Das ist die eine Sache, die uns die Religion sagt.
Die andere ist die, dass es nach dem Tod weitergehen wird. Das nimmt den Menschen die Angst vor dem Ende, das gibt den Menschen Hoffnung auf eine Zukunft. Der Tod ist dann nicht nur das Ende, sondern ein Ende und ein Anfang gleichzeitig. In diesem Zusammenhang denke ich an ein Zitat von dem Philosophen Thomas Bernhard, in dem er gesagt hat: „Alles ist lächerlich, wenn man an den Tod denkt.“ Eben, wenn kein Glauben da ist. Wenn der Tod das Ende sein sollte, dann könnte man diesen Gedanken haben. Aber die Religion sagt uns, ihr braucht keine Angst zu haben. Das ist nicht das Ende, sondern es geht weiter. Das ist dieser Glaube an das nächste, an das kommende, an das jenseitige, an das ewige Leben. Je nachdem, von welcher Religion man ist, hat man natürlich auch unterschiedliche Vorstellungen von diesem Leben, aber Fakt ist, dass uns alle Religionen das Gleiche sagen, und versuchen, uns dazu zu bringen, unser diesseitiges Leben als eine Vorbereitung auf das kommende, das nächste Leben anzusehen und entsprechend zu handeln. Und wenn man so eine Vorstellung, so einen Glauben hat, dann ist man zuversichtlich und hat nicht diese Angst.
Die dritte Sache, die uns die Religion sagt, das Gute tun, rechtschaffen handeln! Dazu halten uns die Religionen an. Auch unterschiedlich, aber doch allgemein gültig, ist das die Botschaft aller Religionen, in jeder Hinsicht und in jeder Beziehung:
- in unserer Beziehung zu den anderen Mitmenschen,
- in unserer Beziehung zu der Natur, zu den anderen Geschöpfen, die es gibt,
- in unserer Beziehung zu dem höheren Wesen, zu Gott.
In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu erwähnen, dass der Mensch – und zwar jeder Mensch – eine angeborene Religiosität hat: Er hat ein religiöses, ein spirituelles Bedürfnis neben all den anderen menschlichen Bedürfnissen. Man kann sagen, es gibt einen angeborenen Glauben. Manche reden in diesem Zusammenhang von einem so genannten „Gott-Gen“, dass der Mensch neben allen anderen Genen ein spezielles Gen besitzt, in dem Gott verankert sei – daher diese Verbindung oder dieses Bedürfnis. Und alle Menschen, unabhängig davon, ob sie religiös sind oder nicht, rufen in schwierigen Situationen, in Krisen oder ähnlichem automatisch: „O Gott!“ Das ist also in der Tat etwas Angeborenes. Im Islam spricht man hier von der „Fitra“, von der Natur des Menschen, dass dies etwas Natürliches sei, was dem Menschen mitgegeben wird.
Das waren jetzt die Überlegungen zu den zwei möglichen Antworten:
- Nein! Was sonst hat uns etwas zu sagen?
- Ja! Aber was hat uns die Religion zu sagen?
Wenn wir sagen, der Humanismus ist gut, ist aber keine Religion, dann stellt sich die Frage: Schließen Religion und Humanismus sich gegenseitig aus? Hier auch wieder die Antwort: das kommt darauf an! Das kommt darauf an, wie man den Humanismus definiert, und auch ein wenig darauf, welcher Religion man sich zugehörig fühlt. Aber man kann sagen, dass dieser Humanismus, eben diese Humanität und Menschlichkeit, Toleranz und Gewaltlosigkeit und die verschiedenen Werte wie die Freiheit des Einzelnen – dass dieser Humanismus ebenfalls ein Teil der Religion ist. Und dafür gibt es auch Belege und Ansätze; die findet man im Judentum, im Christentum und auch im Islam. Die Religion gibt uns auch Werte und Ideale, wenn sie uns sagt, dass wir Gutes zu tun haben. Und es ist unsere Aufgabe, uns diesen Idealen zu nähern. Wir erreichen diese Ideale nicht, es ist aber dennoch unsere Aufgabe, uns ihnen zu nähern. Welche Ideale und Werte sind da gemeint? Welches Ideal finden wir zum Beispiel im Christentum, welches Gebot kommt nach dem ersten Gebot, dem Wichtigsten, und es ist ähnlich wichtig? Da reden wir von der Nächstenliebe. Welches Ideal haben wir im Islam? Da haben wir viele, aber die Barmherzigkeit ist zum Beispiel besonders wichtig. Interessant ist hier, dass die Muslime sagen, die Nächstenliebe ist ein Teil der Barmherzigkeit, während die Christen sagen, die Barmherzigkeit ist ein Teil der Nächstenliebe.
Wir haben die Ideale, und unsere Aufgabe ist, an uns zu arbeiten, uns eben diesen Idealen zu nähern. Und welche Werte? Da finden wir auch die verschiedensten, und vor allem finden wir Werte, die uns Heutigen – wir reden ja von heute – von großem Nutzen sein könnten, würden wir sie leben: Bescheidenheit oder Genügsamkeit (in Zeiten der Wirtschaftskrise auf jeden Fall) Die Menschen suchen vor allem in solchen Zeiten nach Werten, auch nach alten Werten, da spielt die historische Distanz dann keine Rolle mehr, da heißt es: „Her mit den Werten, wir brauchen sie!“, und dann liefert die Religion eben diese Werte. Welche Kritik gibt es an die Religion? Eher ein Diskussionspunkt als eine Kritik ist die Frage: ja, welche Religion hat uns denn etwas zu sagen? Es gibt ja viele! Welche ist denn die Richtige? „Der Islam natürlich!“ Würde ein Muslim sagen. „Das Christentum natürlich!“ Würde ein Christ sagen. Und ein Jude würde entsprechend das Judentum als die richtige Religion ausweisen, Angehörige anderer Religionen genauso.
Und all das sind berechtigte und richtige Antworten – für den Einzelnen. Für mich als Muslim ist meine Antwort richtig: der Islam ist die richtige Religion, und für mich ist der Islam auch meine Wahrheit. Ob diese Wahrheit für andere dann auch die Wahrheit und die richtige Religion ist, das dürfen dann eben diese anderen für sich entscheiden. Das gilt auch für das Christentum, das gilt ebenso für das Judentum, wobei man beim Judentum festhalten muss, dass diese Religion keine Weltreligion im eigentlichen Sinne ist, es ist eher eine Volksreligion, eine Stammesreligion. Wenn wir von einem Gott sprechen, der es dazu kommen ließ, dass wir diese verschiedenen Religionen haben, dann hat das seine Berechtigung und auch seinen Sinn! Und ich denke hier in diesem Zusammenhang auch gerne an die Ringparabel von Lessing. Es soll eben darum gehen, dass die Religionen im Guten miteinander wetteifern, und vielleicht auch zeigen, warum sie es verdienen, die gute, die richtige Religion zu sein. Das ist der eine Punkt.
Der andere ist der: Wie kann ich sehen oder erkennen, dass eine Religion die richtige oder die gute ist? Darauf gibt es auch keine parate Antwort! Sondern folgendes möchte ich dazu sagen:
- Eine Religion ist für den Einzelnen gut und richtig, wenn sie diesem Einzelnen den entsprechenden Halt geben kann, den dieser Mensch braucht.
- Eine Religion ist für den Einzelnen gut, wenn sie diesem Menschen einen gehbaren Weg zeigen und aufzeigen kann
- Und eine Religion ist gut für den Einzelnen, wenn sie für diesen Einzelnen auch nachvollziehbar ist
Natürlich ist der Glaube keine rationale Angelegenheit! Trotzdem! Der Mensch hat nun mal den Verstand, und den versucht er zu benutzen. Mal mit Erfolg, mal mit weniger Erfolg! Kritik an der Religion gibt es, viel sogar, eine davon nannte ich schon: schwierig für die Rationalität, mangelnde Beweise, was manche dazu neigen lässt zu sagen, dann brauchen wir die Religion nicht.
Eine weitere schwerwiegende Kritik ist die, dass man sagt, viele Probleme kommen nur von den Religionen. „Wir haben aufgrund der Religionen nur Krieg auf der Welt!“, das ist eine Hauptkritik. Wenn man in der Geschichte zurück blickt, findet man dies bestätigt, wenn man im Alltag die Nachrichten sieht, bekommt man das auch bestätigt – ein Grund, die Religion abzulehnen?! Wie verteidigen sich Anhänger der Religionen? Sie sagen, dass es nicht die Religionen, die schlecht sind, sondern es sind die Menschen, die die Religionen schlecht machen bzw. schlecht erscheinen lassen! Das Problem ist, dass die Religionen sich dafür eignen, instrumentalisiert und missbraucht zu werden. Dies geschah in der Vergangenheit immer wieder und geschieht auch heutzutage immer wieder.
Aber – soll das für uns heißen, dass wir die Religion nicht brauchen, komplett ablehnen, zurückweisen müssen, da von jener Seite angeblich nur Probleme kommen?! Weil eben die Religionen unterschiedlich sind und jeder meint, die einzig gültige Wahrheit zu besitzen?
Nein! Denn:
- Die Schuldigen sind natürlich nicht die Religionen, sondern die Menschen, und wenn wir von ihnen sprechen, dann ist das ganz ähnlich, wie auch der Humanismus vom Menschen spricht – und dieser Mensch ist entscheidend, hier wie dort. Zum Vergleich: wenn Gesetze instrumentalisiert werden – heißt das dann, dass wir auch die Gesetze abschaffen müssen?
- Nicht die Religionen sind es, die all die Kriege und Krisen verursacht und herbeigeführt haben, was man bei aufrichtiger Beobachtung feststellen kann, sondern eben die Menschen und andere Ideologien, Denkweisen, Vorgehensweisen, Machtansprüche. Damit werden die Religionen dann missbraucht und instrumentalisiert.
- Bei vielen Kriegen, bei denen sehr viele Menschen ums Leben kamen – man denke ganz besonders an die Weltkriege – spielten die Religionen überhaupt keine Rolle.
Zum Schluss möchte ich noch sagen, dass Religion etwas ist, das gelebt werden soll, ganz besonders in den zwischenmenschlichen Beziehungen. All die Tugenden, die in der Religion gelehrt werden, müssen gelebt werden, damit sie gelernt und weitergegeben werden können.
Die Ideale und Werte der Religionen müssen also gelebt und gezeigt werden, auch in der Gesellschaft und damit in der Öffentlichkeit. Meine Damen und Herren, wir sind nicht da, um das Leben zu verstehen, sondern um es zu leben und es lebenswerter zu machen. Die Menschheit braucht mehr Menschlichkeit. Zu dieser hält uns die Religion an. Diese Menschlichkeit sollen wir leben und geben, hoffend und vertrauend darauf, dass es weitergehen wird und dass es gut enden wird.
Vielen Dank für Ihre/Eure Aufmerksamkeit!